In einem Gespräch mit einer Frau, die nicht an Jesus glaubt, das ich kürzlich hatte,
wurde mir einmal mehr bewusst, wie hoch der Maßstab und wie schwer die Praxis ist,
die Paulus in Epheser 4,15 fordert:

“Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe…”

Zugegeben, Paulus beschreibt an dieser Stelle in erster Linie den hohen Maßstab
des Umgangs unter Geschwistern in der Gemeinde Jesu.
Doch es gibt keinen Grund anzunehmen, außerhalb der Gemeinde Jesu dürften wir wahrhaftig sein ohne Liebe - oder lieben ohne wahrhaftig zu sein.
Vielmehr bekräftigen allerlei Aussagen der Schrift (1.Petrus 1,22;1.Joh. 3,18;
2.Joh.1;3. Joh.1, dass dieser Maßstab gilt, ganz gleich mit welchem Menschen
wir es zu tun haben, gläubig oder nicht, Teil der Gemeinde oder nicht.

Wörtlich übersetzt sagt Paulus in diesem Vers, wir sollen “Wahrheiten in der Liebe”,
oder schlicht und einfach “die Wahrheit in Liebe sagen.”
Jeder, der mit offenen Augen durch diese Welt geht, weiß mittlerweile, dass das Konzept der Wahrheit heute mit Füßen getreten wird.
Die Postmoderne ist in aller erster Linie eine Krise der Wahrheit. Mit der Aufgabe der einen Wahrheit - für eine Vielzahl möglicher und gleichberechtigter Wahrheiten,
wurden wir in einen Pluralismus hineinkatapultiert, der ständig in einen Relativismus abrutscht und wie ein Erdrutsch alle “wahre Wahrheit” mit sich zu reißen droht.  

Vor diesem Hintergrund klingt Jesajas prophetische Beschreibung des untreuen Gottesvolkes fast unheimlich zeitgemäß:

„Sie kennen den Weg des Friedens nicht, und Unrecht ist auf ihren Pfaden.
Sie gehen auf krummen Wegen; wer auf ihnen geht, der hat keinen Frieden. Darum ist das Recht ferne von uns, und die Gerechtigkeit kommt nicht zu uns. Wir harren auf Licht, siehe, so ist’s finster, auf Helligkeit, siehe, so wandeln wir im Dunkeln. Wir tasten an der Wand entlang wie die Blinden und tappen wie die, die keine Augen haben. Wir stoßen uns am Mittag wie in der Dämmerung, wir sind im Düstern wie die Toten. Wir brummen alle wie die Bären und gurren wie die Tauben; denn wir harren auf Recht, so ist’s nicht da, auf Heil, so ist’s ferne von uns. Denn wir sind zu oft von dir abgefallen, und unsre Sünden zeugen gegen uns. Unsre Abtrünnigkeit steht uns vor Augen, und wir kennen unsre Sünden:
abtrünnig sein und den Herrn verleugnen und abfallen von unserm Gott,
Frevel reden und Ungehorsam, Lügenworte ausbrüten und bedenkenlos daher reden. Und das Recht ist zurückgewichen, und die Gerechtigkeit hat sich entfernt; denn die Wahrheit ist auf der Gasse zu Fall gekommen, und die Aufrichtigkeit findet keinen Eingang. Und die Wahrheit ist dahin, und wer vom Bösen weicht, muss sich ausplündern lassen. Das alles sieht der Herr, und es missfällt ihm sehr, dass kein Recht ist.“ (Jesaja 59, 8-15)

Ein Volk ohne Wahrheit inmitten eines Landes, in dem die Wahrheit “zu Fall gekommen” und dahin ist - das ist die messerscharfe Analyse unserer Gesellschaft.

Wie soll man in einer Gesellschaft “die Wahrheit in Liebe sagen”, wenn allein schon der Anspruch Wahrheit zu haben oder zu kennen als das Liebloseste auf der Welt interpretiert wird?
In einer Zeit, in der Toleranz so groß geschrieben wird, dass alles toleriert werden kann und muss, außer der Intoleranz, und in der es als höchster Ausdruck von Nächstenliebe empfunden wird, den anderen “stehen zu lassen”, seine Meinungen und Ansichten zu respektieren und niemals mit gut oder schlecht, richtig oder falsch zu bewerten - in solch einer Zeit können wir Christen nur anecken, wenn wir uns bemühen, dem biblischen, paulinischen Standard gerecht zu werden: “die Wahrheit in Lieben zu sagen.”  

In meinem Gespräch mit der ungläubigen Frau kam ein ganz typischer Punkt, an dem sie mich anschaute und mir mit eindringlichem Ton sagte: “Ich möchte vor allem akzeptiert und toleriert werden, so wie ich bin und mit allem, was ich glaube!”
Das ist das Wichtigste! Und im Grunde ist dies natürlich ein Schrei nach Liebe. “Ich will geliebt werden!” Toleranz und Akzeptanz sind die Schlagwörter einer liebeskranken Gesellschaft, in der Abgrenzung, Beurteilung, Auseinandersetzung und Überzeugung als Inbegriffe von Hass und Lieblosigkeit gesehen werden.
Mit der “Liebe” aus Epheser 4,15 hat also niemand Probleme. Es ist die “Wahrheit”,
der ganz allgemein ein schlechter Ruf vorauseilt und die niemand will.

Doch wie in allen biblischen Anweisungen, ob von Paulus oder irgendeinem anderen Verfasser, werden wir hier nicht vor die Wahl gestellt. Wir müssen diese beiden Pole “Wahrheit” und “Liebe” mit aller Kraft und um jeden Preis zusammenhalten und zusammen leben und verkündigen. Und genau hier, habe ich den Eindruck, gehen viele Christen, ja vielleicht sogar der Evangelikalismus als Gesamtes, in der Verfassung,
in der er sich heuer präsentiert, in die Irre. Sie laufen einem falschen Dilemma auf,
dem Dilemma, dass sie sich für eine Option entscheiden müssen: entweder Wahrheit oder Liebe. Und -beeinflusst von den postmodernen Meinungsmachern, ist es fast immer die Liebe der Pol, von dem man sich anziehen lässt. Und so haben wir viele “liebevolle” Christen, die nicht mehr wissen, was die Wahrheit ist und wie sie sie intelligent präsentieren können. Und irgendwann, eher früher als später, haben wir einen Evangelikalismus, der nur so vor Liebe, Toleranz und Akzeptanz strotzt, aber nicht mehr für irgendeine Wahrheit steht.

Wir haben keine Wahl. Wir müssen die Wahrheit in Liebe sagen und lieben in Wahrheit.
Doch sind diese zwei “Pole” denn wirklich so gegensätzlich, so völlig unvereinbar, wie der Zeitgeist uns glauben machen will?  

Nachdem die Frau mir ihr Herz ausgeschüttet und mir gesagt hatte, dass sie in erster Linie akzeptiert und geliebt werden wolle, schaute ich sie an und fragte sie: “Wie soll ich dich denn als Menschen lieben und akzeptieren? In dem ich passiv abnicke, was du mir sagst, alles toleriere und akzeptiere, was aus deinem Mund kommt, selbst wenn es der größte objektive Müll ist, den man sich vorstellen kann? Was für ein Mensch wäre ich denn, was für eine Liebe wäre das denn, wenn ich etwas wüsste, eine alles entscheidende Wahrheit, und würde sie dir vorenthalten?”

Es gibt ein Sprichwort, das zumindest alt genug ist, dass es noch nicht postmodernisiert worden ist:

“Wahrheit ohne Leibe ist brutal - Liebe ohne Wahrheit ist Heuchelei”

Wenn das Sprichwort stimmt, dann ist vieles, was heutzutage als “Liebe” kursiert,
in Wirklichkeit Heuchelei. Und so habe ich das auch versucht der Frau ins Herz zu sprechen: “Wenn ich dich nur einfach ’stehen lassen’ würde, während es mir innerlich fast das Herz zerreißt, weil ich eine Wahrheit kenne, die voller Liebe ist, sie dir aber vorenthalten muss - bin ich dann nicht der größte Heuchler auf Erden? Ist das wirklich Liebe? Ist Nächstenliebe, wenn ich meinen nächsten in sein sicheres Verderben rennen sehe und schau ihm dabei zu - tolerant und akzeptierend - oder ist das nicht vielmehr die schlimmste Form der Heuchelei, ja der größte vorstellbare Hass?”

Bei diesen Gedanken wird deutlich, dass Wahrheit und Liebe unendlich eng miteinander verbunden sind, ja dass sie in der Praxis miteinander verschmelzen. Es sind keine Gegenpole, die so weit voneinander entfernt sind, dass wir sie nicht zusammenbringen können, dass wir uns für das eine oder das andere entscheiden müssten. Nein, in dem Moment, wo wir uns für das eine (und gegen das andere) entscheiden, rinnt es uns schon durch die Finger hindurch wie Sand und wir haben keines von beiden. Eine Wahrheit ohne Liebe ist nicht eine schlechte, minderwertige Wahrheit, sondern keine Wahrheit. Und eine Liebe ohne Wahrheit ist nicht eine schlechte, minderwertige Liebe, sondern keine Liebe. Ersteres ist pure Lieblosigkeit, letzteres pure Schwärmerei und Gefühlsduselei. Und da ein Christ sich für eines nur gegen besseres Wissen entscheiden kann, sind letztlich beide Haltungen eine Form des Hasses.

In Sprüche 27 finden wir folgende Weisheit:

“Offene Zurechtweisung ist besser als Liebe die verborgen bleibt. Die Schläge des Freundes meinen es gut, aber die Küsse des Hassers sind trügerisch.” (Sprüche 27, 5-6)

Wenn ich meinem Freund sage, “Was du hier tust/denkst/glaubst, ist nicht richtig, sondern führt ins Verderben,” dann ist dies - sofern was ich sage wahr ist-
ein Akt der Liebe. Wenn ich zuschaue, wie er ins Verderben rennt, und dies als “Liebe” verbräme, ist dies in Wirklichkeit ein Akt des Hasses, ein trügerischer Kuss.  

So lasst uns einander lieben. Christen, liebt eure Geschwister - nicht mit einer Liebe, die wahrheitslos ist. Aber auch nicht mit einer Wahrheit, die lieblos ist. Christen, liebt eure nichtchristlichen Freunde - nicht mit einer Liebe, die nur alles akzeptiert und toleriert, sondern sagt die harte aber wahre Wahrheit, um der Liebe willen. Aber auch nicht mit einer Wahrheit, die lieblos ist und nicht den Menschen im Blick hat, den Gott in unser Leben gebracht hat. Und Christen, liebt eure Feinde - nicht mit einer Liebe, die vor Emotionalismus nur so trieft, sondern mit der Liebe, die Jesus Christus selbst verkörpert, der der Menschheit die Wahrheit brachte - die Wahrheit über ihren schlechten, sündhaften Zustand - aber in Liebe - der Liebe des sich selbst-opfernden Gottessohnes.
“Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe…”

Vielen lieben Dank an den Verfasser Sebastian Heck für diesen wahren Text und die Erlaubnis, das ich ihn hier veröffentlichen darf.